Sidney Lumet
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Lumet - Die Flucht ins UngewisseFlucht ins Ungewisse

1988
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Die Flucht ins Ungewisse

Am besten, Sie lesen nichts über den Film, bevor Sie ihn gesehen haben. Das Erlebnis, in eine Handlung zu geraten, deren komplexe Zusammenhänge sich erst nach und nach entblättern, sollten Sie sich nicht entgehen lassen.

Die Familie Pope führt ein Leben im Untergrund. Einst hatten sie sich einer radikalen Antikriegs-bewegung angeschlossen und werden seither vom FBI gesucht. Was dieser lange zurückliegende Entschluß für ihre Zukunft bedeutete, stellt sich erst nach und nach heraus. Vor allem die beiden Kinder haben darunter zu leiden. Kaum haben sie Freunde gefunden, muß die Familie schon wieder untertauchen. Auch die Eltern und deren Väter und Mütter leiden bis heute darunter, denn sie wurden von ihren Familien getrennt. Doch während die Eltern keine Alternativen mehr haben, kann der älteste Sohn Danny (River Phoenix) noch über seine Zukunft entscheiden. Und er muß sich entscheiden zwischen der Liebe und Loyalität zu seiner Familie und der Liebe zu einer Mitschülerin. Ganz nebenbei klärt sich dabei auch noch die Frage nach seiner Zukunft als talentierter Musiker.

Das Drehbuch hält für uns wunderbare Szenen bereit. Da ist ein Musiklehrer, der im Unterricht Rockmusik spielt und nichts dagegen hat, daß seine Schüler auf dem Podium dazu tanzen. Die Begeisterung unter den Schülern läßt kaum nach, wenn dann Beethoven erklingt. Wie ein Dirigent bittet der Lehrer mit einer sanften Geste um Aufmerksamkeit, und er muß auch nur ein paar Worte sagen, und schon holen die Schüler blitzschnell ihre Hefte heraus, um die Infos begierig aufzuschreiben. Hätten wir uns Unterricht nicht so oder so ähnlich auch gewünscht?

Wenn Annie ihren Vater gegen Ende des Films um Hilfe bittet, er sie mit Vorwürfen überzieht und sie ihm ihre Liebe gesteht, woraufhin er die Fassung verliert, dann gewinnen wir eine Ahnung von der seelischen Zerreißprobe, in der sich die Figuren befinden.

So wie sich alles in diesem Fim ganz unscheinbar entwickelt, so als könnte es gar nicht anders geschehen, genauso so gleitet man in die schönste Szene des Films hinein. Lorna, Dannys Freundin erscheint auf der im Familienkreis stattfindenden Geburtstagsfeier der Mutter (Annie). Eine jedem bekannte Situation, die noch selten gut ausgegangen ist, zumal Lorna mitkriegt, daß mit den Namen der Familienmitglieder etwas nicht stimmen kann, da Annie auf der Geburtstagstorte nunmehr Sam genannt wird. Nach den Geschenküberreichungsritualen, die erfreulicherweise ohne Peinlichkeiten verlaufen, machen Arthur (Dannys Vater) und der kleine Bruder Harry den Abwasch. Lorna hilft mit und James Taylor singt aus dem Radio. Jung und Alt fühlen sich gleichermaßen animiert, ihre Befangenheit zu vergessen. Auf einmal lösen sich alle Barrieren, man weiß nicht, wie es geschieht, doch unversehens tanzen alle in eine unbeschwerte Leichtigkeit hinein. Momente des Glücks müssen sich wohl so oder so ähnlich anfühlen.

Sidney Pollacks Aussage, daß die Qualität eines Films ausschließlich von den Schauspielern abhinge, wollte ich nie akzeptieren, und ich glaube immer noch, daß es auch anders geht. Sidney Lumet beweist jedoch ein ums andere Mal, daß es zumindest nicht von Nachteil ist, die Schauspieler glänzen zu lassen. River Phoenix zeigt sein außergewöhnliches Talent, das wegen seines frühen Todes unerfüllt blieb; Christine Lahti überzeugt als Mutter; und Martha Plimpton ist unwiderstehlich niedlich, genau wie der kleine Jonas Abry, dessen Worte "Hi, ich bin Harry!" schon beinahe genügen würden, um ihn für den Oscar zu nominieren. Fast alle Darsteller wurden mit Preisen ausgezeichnet. Nur Judd Hirsch, den man sonst nur aus Fernsehserien kennt, wurde scheinbar übersehen. Dabei liefert gerade er eine Meisterleistung ab.

Ricardo Salva, April 2011